* 33 *

Die Kugel lag auf dem Küchentisch. Ein kleines Bleigeschoss, an dem noch ein Büschel Boggartfell klebte. Es lag drohend mitten auf Tante Zeldas frisch gescheuertem Tisch.
Der Boggart lag reglos in einer Zinnbadewanne, die auf dem Boden stand, aber er war nicht mehr der Boggart, den sie alle kannten und gern hatten. Er sah zu klein, zu mager und unnatürlich sauber aus. Ein breiter Verband aus zerrissenen Laken war um seinen Bauch gewickelt, aber schon breitete sich ein roter Fleck auf dem weißen Stoff aus.
Seine Augenlider zitterten leicht, als Jenna, Nicko und Junge 412 in die Küche schlichen.
»Er muss so oft wie möglich mit einem Schwamm und warmem Wasser abgerieben werden«, sagte Tante Zelda. »Sonst trocknet er aus. Aber gebt Acht, dass die Schusswunde nicht nass wird. Und er muss sauber bleiben. Kein Schlamm, mindestens drei Tage lang. Ich habe Schafgarbenblätter auf die Wunde gelegt und koche ihm gerade Weidenrindentee. Der lindert die Schmerzen.«
»Aber er wird doch wieder gesund?«, fragte Jenna.
»Ja, er wird es überstehen.« Tante Zelda rang sich ein schwaches Lächeln ab, während sie in einem großen Kupfertopf mit Weidenrinde rührte.
»Aber die Kugel. Ich meine, wer tut so etwas?« Jennas Blick wurde von der schwarzen Bleikugel angezogen, diesem unwillkommenen und bedrohlichen Eindringling, der so viele unangenehme Fragen aufwarf.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tante Zelda leise. »Ich habe ihn gefragt, aber er kann nicht sprechen. Ich glaube, wir sollten heute Nacht Wache halten.«
Während Tante Zelda also den Boggart pflegte, gingen Jenna, Nicko und Junge 412 mit den Einmachgläsern nach draußen.
Kaum in der kalten Nachtluft, schlug bei Junge 412 die militärische Ausbildung durch. Er schaute sich nach einem Platz um, wo sie sich verstecken und alle Wege und Kanäle, die zur Insel führten, im Auge behalten konnten. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Das Hühnerboot.
Es war eine gute Wahl. Bei Nacht waren die Hühner im Laderaum eingesperrt, und das Deck war frei. Junge 412 kletterte an Bord und duckte sich hinter das morsche Ruderhaus, dann gab er Jenna und Nicko ein Zeichen, nachzukommen. Sie stiegen in das Hühnerboot und reichten Junge 412 die Einmachgläser hinauf. Dann gesellten sie sich zu ihm ins Ruderhaus.
Es war eine bewölkte Nacht. Die meiste Zeit war der Mond verdeckt, doch dann und wann kam er heraus und goss ein klares weißes Licht auf die Marschen, sodass man kilometerweit in alle Richtungen gut sehen konnte. Junge 412 beobachtete die Umgebung mit geschultem Auge und hielt nach verdächtigen Bewegungen oder irgendwelchen verräterischen Anzeichen Ausschau, wie es ihm der furchtbare Hilfsjäger Catchpole beigebracht hatte. Junge 412 erinnerte sich noch mit Grausen an Catchpole. Er war ein extrem großer Mann, und das was einer der Gründe, warum er es nie zum Jäger gebracht hatte – er war einfach zu leicht zu entdecken. Es gab noch viele weitere Gründe, wie zum Beispiel sein unberechenbares Temperament, seine Angewohnheit, mit den Fingern zu schnalzen, wenn er nervös war, wodurch er sich häufig verriet, wenn er sich an die Beute anpirschte, und seine Abneigung gegen zu häufiges Baden, was denen, die er jagte, ebenfalls das Leben retten konnte, vorausgesetzt, sie hatten eine feine Nase und der Wind blies aus der richtigen Richtung. Doch der Hauptgrund, warum er es nie zum Jäger gebracht hatte, war einfach der, dass ihn niemand mochte.
Junge 412 mochte ihn auch nicht, aber er hatte viel von ihm gelernt, als er sich an die Wutausbrüche, den Geruch und das Schnalzen gewöhnt hatte. Und eine Sache, an die sich Junge 412 noch erinnerte, war abwarten und beobachten. Das hatte ihm Catchpole so lange eingebläut, bis es wie eine lästige Melodie nicht mehr aus dem Kopf ging. Abwarten und beobachten, abwarten und beobachten, abwarten und beobachten, Junge.
Der Gedanke dabei war: Wenn der Beobachter nur lange genug wartete, würde sich die Beute irgendwann verraten. Zum Beispiel durch das leichte Wippen eines Zweiges, das kurze Rascheln von Laub oder das Aufscheuchen eines kleinen Tiers oder eines Vogels. Irgendwann passierte es mit Sicherheit. Der Beobachter brauchte nur abzuwarten. Natürlich musste er das verräterische Zeichen erkennen, wenn es kam. Das war das Schwierigste dabei und nicht unbedingt die Stärke von Junge 412. Diesmal aber, so sagte er sich, diesmal würde er es erkennen – ohne den stinkenden Atem des widerlichen Catchpole im Nacken. Davon war er überzeugt.
Es war kalt im Ruderhaus, doch in der Ecke lag ein Haufen alter Säcke. Sie holten sich welche und wickelten sich ein, machten es sich gemütlich und warteten. Und beobachteten. Und warteten.
In den Marschen regte sich nichts. Am Himmel jagten die Wolken vorüber. Immer wieder schoben sie sich vor den Mond und tauchten die Landschaft in tiefe Dunkelheit, doch schon im nächsten Augenblick zogen sie weiter, und Mondlicht überflutete das Marschland. In einem solchen Augenblick, als der Mond plötzlich das Gewirr von Kanälen beleuchtete, geschah es. Junge 412 sah etwas. Oder glaubte, etwas zu sehen. Aufgeregt stupste er Nicko an und deutete in die Richtung, doch just in diesem Augenblick schob sich die nächste Wolke vor den Mond. Und so kauerten sie weiter im Ruderhaus und warteten. Und beobachteten. Und warteten.
Die lange schmale Wolke schien eine Ewigkeit zu brauchen, um am Mond vorbeizuziehen, und während sie warteten, wurde Jenna bewusst, was sie am wenigsten sehen wollte: jemanden, der durch die Marschen auf sie zukam. Wer immer auf den Boggart geschossen hatte – hoffentlich war ihm plötzlich eingefallen, dass er einen Kochtopf auf dem Herd stehen gelassen hatte, und hoffentlich hatte er beschlossen, umzukehren und ihn herunterzunehmen, bevor sein Haus abbrannte. Doch sie wusste, dass er nicht umgekehrt war, denn plötzlich war der Mond hinter der Wolke hervorgekommen, und Junge 412 deutete wieder auf etwas.
Zuerst konnte Jenna nichts erkennen. Das flache Marschland dehnte sich unter ihr, und sie spähte aus dem Ruderhaus wie ein Fischer, der das Meer nach einem Fischschwarm absucht. Dann sah sie es. In der Ferne glitt ein langer schwarzer Schatten langsam durch einen der Kanäle.
»Das ist ein Kanu ...«, flüsterte Nicko.
Jennas Herz tat einen Sprung. »Ist es Dad?«
»Nein«, antwortete Nicko. »Es sind zwei. Oder drei. Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich sage Tante Zelda Bescheid«, sagte Jenna und stand auf, doch Junge 412 hielt sie am Arm fest.
»Was ist?«, flüsterte sie.
Junge 412 schüttelte den Kopf und legte den Finger auf die Lippen.
»Ich glaube, er hat Angst, du könntest ein Geräusch machen und uns verraten«, flüsterte Nicko. »Bei Nacht wird der Schall in den Marschen weit getragen.«
»Warum sagt er es dann nicht?«, erwiderte Jenna gereizt.
Und so blieb Jenna im Ruderhaus und beobachtete, wie das Kanu langsam, aber zielstrebig durch das Labyrinth der Kanäle steuerte, alle anderen Inseln links liegen ließ und genau auf ihre zuhielt. Es kam immer näher. Etwas an den Gestalten kam Jenna schrecklich bekannt vor. Die größere im Bug hatte die konzentrierte Haltung eines Tigers, der sich an seine Beute anpirscht. Einen Augenblick lang hatte sie Mitleid mit der Beute, bis ihr schockartig klar wurde, wer die Beute war. Sie war die Beute.
Es war der Jäger, und er war ihretwegen gekommen.